wilde blumen, brave Kinder - paulapolak

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veröffentlicht in der Zeitschrift des ÖISS, Ausgabe 02/2007

Wilde Blumen, brave Kinder

Wie ist sie, die „heutige Jugend“?
Kinder, die kids genannt werden wollen, für die eine Maus etwas zum klicken ist, und kein putziges Tierchen mit Knopfaugen und vibrierenden Barthaaren; 12jährige, die auf den androgynen Bill von „Tokyo Hotel“ abfahren, und ihm per mail ihre Jungfernschaft anbieten; Gruppen von Jugendlichen, die sich Emos nennen, allein in ihren, mit allen elektronischen Medien ausgestatteten, Zimmern im Selbstmitleid versinken, und per Internet Selbstmordpakte schließen….. Diese Liste ließe sich noch endlos fortsetzen, das wäre allerdings zu einfach. Die „heutige Jugend“ wurde schon immer von älteren Generationen kopfschüttelnd missverstanden und pauschal abqualifiziert, in diese Falle wollen wir nicht tappen, gerade heute im Zeitalter der Individualisierung. Die „heutige Jugend“ ist sicher heterogener als die Alten so auf den ersten Blick annehmen.
Aber, auch auf die Gefahr hin, zu verallgemeinern: einige Trends sind doch erkennbar, vom Kindergarten an bis zu den jungen Erwachsenen:

  • Fettleibigkeit nimmt zu

  • Allergien nehmen zu

  • Motorische Fähigkeiten nehmen ab

  • Naturbezug nimmt ab


Allerdings nimmt die Fingerfertigkeit durch die Benutzung von Handies, Computer und Spielekonsolen zu.
Es gibt bereits Kinder, denen fehlen die Reflexe, beim Hinfallen die Hände vorzustrecken, sie fallen buchstäblich „auf die Schnauze“. Siehe Margarethe Tschannett, die in Kursen den Kindern das Fallen beibringt.
Ich kann das auch aus 15 Jahren Erfahrungen mit Kindergarten- und SchulfreundInnen meiner Tochter bestätigen: Kinder stolpern über kleinste Hindernisse in unserem Naturgarten, grausen sich vor Fröschen, fürchten sich vor Katzen, erkennen im Beet Schnittlauch und Petersilie nicht, ekeln sich vor Schwimmteichwasser mit Trinkwasserqualität, können nicht auf Bäume klettern, sind entsetzt, wenn wir im Garten ein Lagerfeuer machen……
…sind aber gleichzeitig begeistert und fasziniert.
Kinder brauchen den Kontakt zu „Natur“, zu den unregelmäßigen Strukturen, wie sie kein von Menschen gebautes Element aufweist, brauchen die „gefährlichen“ Herausforderungen, die Steine, Schlamm und dornige Büsche bieten. Kinder wachsen daran, Ihre Fähigkeiten und deren Grenzen zu erforschen.

Was geht uns das an, was hat das mit Schule zu tun?
Wir alle sind verantwortlich für die oft seltsamen Verhaltensweisen der „heutigen Jugend“, weil wir ihnen „alles“ geben, im materieller Hinsicht, nur nicht Zeit, Aufmerksamkeit und Freiräume.
„Freiräume“ in all ihren Ausprägungen betreffen auch die Schule. Die Schule hat die Aufgabe, Kindern Freiräume in geistiger Hinsicht zu lassen, ihnen selbstständiges Denken beizubringen, ihnen zeitliche Freiräume für die Entwicklung von Fantasie und eigenständiger Persönlichkeit zu geben, und äußere Freiräume, in denen sich ungebremst durch Spielregeln die motorischen Fähigkeiten entwickeln können. Die Grenzen setzen sich die Kinder selbst durch die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten.

In Deutschland werden diese Ansätze in der Schulhofgestaltung schon umgesetzt. Neue Schulhöfe mit Naturstein – Kletterburgen, Bachläufen, Matschgräben, Seilgärten, Wildstauden und Rosenhecken sind inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Und diese „wilden Schulhöfe“ werden auch noch vom TÜV abgenommen! Und die Unfallversicherungen verrechnen geringere Beiträge, da in den „wilden Schulhöfen“ statistisch nachweislich weniger Unfälle passieren als in herkömmlich gestalteten.
Warum?
Was machen 800 SchülerInnen auf einer ebenen Asfaltfläche?
Wenig.
Sie laufen, rempeln und rangeln, denn für andere Tätigkeiten fehlen die Strukturen. In „Naturerlebnisräumen“ beklettern sie, jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, die Trockenmauern, bauen Wehre am Bach, beobachten Rosenkäfer, oder tratschen im Weidentunnel, je nach den momentanen Bedürfnissen. Sie kommen entspannt, erholt, ausgetobt und aufnahmebereit in den Unterricht zurück.

Es ist unser Job, ihnen diese Möglichkeiten zu geben. Wir „RaumgestalterInnen“, PlanerInnen, Schulbauverantwortliche tragen nicht unwesentlich dazu bei, wie Kinder ihre Umwelt erleben.
Dazu gehören neben den baulichen Strukturen auch die natürlichen, die Pflanzen. Die Pflanzenauswahl im Schulhof beeinflußt, welche Erfahrungen Kinder im Schulgarten machen können.

Wir wählen „Wildpflanzen“, das heißt heimische Pflanzen, denn:

  • Wildpflanzen stellen einen Bezug zu unseren Naturstandorten her; wenn die Kinder nicht mehr in den Wald und auf die Wiese kommen, kommen Wald und Wiese eben zu den Kindern. Sie lernen vor der Schultüre, wie Bucheckern, Veilchen und Margariten aussehen.


  • Wildpflanzen sind robuster und unkomplizierter, eben dem Standort angepasst, und ertragen so die Kinderherden, oder – horden besser.


  • Wildpflanzen sind vielfach nutzbar, Brennnessel, Giersch und Bärlauch werden zu Suppen verarbeitet, aus Haselruten werden Grillstäbchen, und aus Weiden ein Flechtzaun. Gib jedem Schüler, jeder Schülerin einer Klasse die Aufgabe, sich mit einer bestimmten, von ihm gewählten Pflanze zu beschäftigen, das kann sich durch alle Fächer ziehen, Zitate aus der Literatur, der Lorbeerkranz auf Cäsar`s Haupt, blühende Zitronen bei Goethe, das Läusekraut bei Waggerl *, Seerosen bei Monet, die Suche nach der blauen Blume der Romantik, Versuche mit der Mendelschen Vererbungslehre…. Die Möglichkeiten, Wildpflanzen in den Unterricht einzubauen, sind endlos.


  • Manche Wildpflanzen tragen Dornen oder Stacheln. Ein kontroverses Thema, ich weiß. Die Angst vor Augenverlust durch Stachelkontakt ist enorm. Mir ist allerdings kein einziger Fall einer ernsthaften Verletzung durch Rosenhecken bekannt, allerdings einige Unfälle durch Kontakt mit Autos oder den falschen Menschen, Musikrichtungen oder Ideologien. Kinder sollen/müssen lernen, mit Gefahren umzugehen. Eine Rose sticht eben, na und? Es gibt Tränen, aber auch eine Erfahrung, und beim nächsten Mal den Stolz, die Rose mit Hilfe von Handschuh und Schere doch noch überlistet zu haben. Übrigens: auch Himbeeren wachsen auf dornigen Trieben und nicht im Kühlregal. Nebenbei sind dornige Hecken wichtige Grenzgeber, an Abhängen oder Strassen hindern sie die Kinder daran, sich ernsthaft zu verletzen.


  • Manche Wildpflanzen sind giftig. Natürlich kann man Kindern einfach den Umgang mit allem, was grün ist, verbieten. Die Alternative dazu ist aber, ihnen den Umgang mit den Pflanze zu lehren, damit sie nicht aus giftigen Maiglöckchenblättern Bärlauchspinat machen, oder glauben, alle roten Beeren seien Ribisel. Ein beschriftetes, erklärendes „Gifteck“ im Schulgarten kann sogar Leben retten, wenn ein Kind dort lernt, dass die Schoten des Goldregens nicht so bekömmlich wie Fisolen sind.


  • Alle Wildpflanzen ernähren irgendjemanden. Sie bieten Unterschlupf und Nahrung für eine Vielzahl von Tieren. Setzt man Wildpflanzen in einen Schulgarten, zieht man damit automatisch die davon lebenden Tiere nach, und Kinder in der Stadt sehen oft zum ersten Mal ein Tagpfauenauge oder einen Gartenrotschwanz. Alles, was Flügel hat, findet man schnell auch im innerstädtischen Bereich.



Wilde Blumen, brave Kinder ?
Das hängt davon ab, wie man „brav“ definiert. Definiert man es als „angepasst, schweigsam, lieb und ruhig“, dann tragen naturnahe Schulhöfe wohl keine braven Kinder als Früchte. Wählt man die Definition „interessiert, lebhaft, lebendig, engagiert“ dann macht Naturbezug die Kinder brav.


* Das Läusekraut ist so verlaust, dass nur ihm selbst nicht vor ihm graust. Weil aber, was die Welt verdammt, doch auch aus Gottes Händen stammt, lebt es von Mensch und Tier gemieden - in Frieden.

 
 
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